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Eherne Geschlechterrollen
von Irmtraud Gutschke
Lassen wir uns nach Japan entführen. Dort gibt es, wie wir lesen, zwar Badewannen mit digitaler Temperaturwahl und Toiletten, die jedes Geräusch schlucken, was uns aber nicht erstaunt: Was die Geschlechterrollen betrifft, ist es mit der Modernisierung noch nicht so weit her, wie die Protagonistin schmerzlich erfahren muss. „Die Kaffeetassen stehen ja immer noch da“, rügt der Abteilungsleiter… „Frau Shibata…“ Weil die 34-Jährige in ihrem Tokyoter Büro nur Männer um sich hat, wird wie selbstverständlich von ihr erwartet, Kaffee auszuschenken, das Geschirr abzuwaschen, den Kühlschrank zu säubern und was es noch alles für „Frauenarbeiten“ gibt.
Vielleicht hätte sie ihren Groll weiter heruntergeschluckt, wenn „in den Kaffeeresten keine Zigarettenstummel geschwommen hätten und der Gestank der abgestandener Kippen um halb fünf nicht schon so unerträglich gewesen wäre“. Verzeihung, sagt sie zum Abteilungsleiter, „könnten Sie das Aufräumen heute für mich übernehmen?“ – „Wie bitte?“ – „Ich kann nicht.“ – „Wie, Sie können nicht?“ – „Ich bin schwanger. Vom Kaffeegeruch wird mir schlecht und von Zigarettenqualm auch. Schwangerschaftsübelkeit. Überhaupt ist das hier doch eigentlich ein Nichtraucher-Büro.“
Mit dieser kleinen Kühnheit beginnt es. Aber ist es wirklich eine „geniale Idee“? Wie wird die junge Frau mit dieser Lüge fertig werden? Seine Spannung bezieht der Roman von Emi Yagi aus dieser Frage. Ich überlege, ob die 33-jährige Autorin vielleicht selbst eine Schwangerschaft hinter sich hatte. Zumindest hat sie darüber nachgedacht, wie Frauen kurzzeitig dadurch sogar einen höheren Status bekommen, schließlich tragen sie zur Reproduktion der Gesellschaft bei. Aus der Ich-Perspektive lässt sie Frau Shibata voller lebendiger Details erzählen, wie sie die Stadt ganz anders erlebt, seitdem sie keine Überstunden mehr machen zu muss. Da bekommt man ein Bild vom Alltag in der Metropole Tokyo und eine Vorstellung davon, wie es sein kann, mal in Ruhe zu sich selber zu kommen. Ob schwanger oder nicht, das ist es doch, was Frauen fehlt. Männern aber auch. Alle sind gestresst.
Frau Shibatas Kollegen sind rücksichtsvoll, aber auch zudringlich mit ihren Fragen, zumal sie nicht verheiratet ist. Und sie muss sich nun auch wie eine Schwangere benehmen. Simulation von der fünften bis zur vierzigsten Woche – was für eine Herausforderung. Über eine App auf dem Handy informiert sie sich über ihren angeblichen jeweiligen Zustand und den des Babys. Sie stopft sich den Bauch aus, nimmt tatsächlich irgendwann zu, besucht eine Gymnastikgruppe für Schwangere, gewinnt durch die Bekanntschaft mit anderen Frauen völlig neue Perspektiven. Ja, ich denke schon, da hat die Autorin eigenen Erfahrungen eingebracht.
Was für Frau Shibata „ein kleines Experiment“ namens „Widerstand“ hatte sein sollen, trifft bald auf eine Barriere, wo es für Frauen richtig hart wird. Und da ist es vorbei mit „lustig“. Der Roman, der zunächst so witzig war, kulminiert in einem Wutausbruch, in dem sich auch hierzulande viele junge Frauen wiederfinden werden. „In unserem Zeitalter kann man mit virtueller Währung einkaufen und muss nicht einmal ins Büro, um zu arbeiten. Warum ist das Kinderkriegen, das fast die Hälfte der Bevölkerung einmal durchmacht, dann immer noch so qualvoll? Warum muss man ein Kind an seiner schmerzenden Brust stillen und kann nicht mal dreißig Minuten am Stück schlafen?“
Bei manchen geht die Geburt vielleicht recht schnell, andere liegen Stunden unter Schmerzen. In einer technisierten Umgebung, umgeben von medizinischer Routine, Gott sei Dank. Das Leben von Mutter und Kind zu retten ist oberstes Gebot. Und es hat Priorität gegenüber allem Seelischen, zumal es meist an den Ressourcen fehlt, um eine liebevolle Atmosphäre herzustellen. Es ist eine Ausnahmesituation, in der man alle Kraft zusammennehmen muss. Ein Schock für viele, weil sie dadurch aus einer Wohlfühlatmosphäre herausgeschleudert werden in eine plötzliche Erfahrung des Ausgeliefertseins, die sich verstärkt, weil sie medizinisch ein Objekt sind, weil in dieser Situation nicht gefragt wird, ob der Arzt die Fruchtblase vom Gebärmutterhals lösen, einen Dammschnitt vornehmen darf. Sagen wir es ruhig in aller Deutlichkeit: Es ist eine traumatische Erfahrung, auch wenn die Natur es so eingerichtet hat, dass Frauen sie vergessen, um für weitere Geburten bereit zu sein. Was über Jahrhunderte als Normalität empfunden wurde, dass die Geburt einer der gefährlichsten Momente im Leben einer Frau und eines Kindes ist, ist heute dank moderner Medizin vergessen. Umso schockierender die Erfahrung von persönlicher Hilflosigkeit, die moderne Frauen als Kränkung ihres Selbst erleben.
Das zornige Aufbegehren im Roman ist wohl gerechtfertigt, auch wenn man zugestehen muss, dass Gebärende in reichen Ländern heute auf humanere Bedingungen rechnen können als es ihren Vorfahren möglich war. Und für deren Nachkommen mag sich auch manches zum Besseren wandeln. Die große Ungerechtigkeit, dass die Frauen unter Schmerzen gebären, während Männer ihnen dabei bestenfalls die Hand halten, die wird bleiben. Womit man sich aber nicht abfinden darf, das ist die soziale Ungerechtigkeit.
In einer seitenlangen Suada macht Frau Shibatas Freundin Hosono dem Zorn über ihren Mann Luft. „Mit Ausnahme vom Stillen sind unsere Bedingungen gleich. Doch der werte Herr meint, er bräuchte Zeit, um in die Rolle des Vaters zu wachsen. Geht es noch? … Du redest dich immer mit der Arbeit heraus, aber ich habe, beziehungsweise hatte, ebenfalls eine Arbeit, auch wenn sie schlechter bezahlt war als deine… Kannst du dir vorstellen, wie erschöpft ich bin? … Kann mein Mann überhaupt begreifen, wie ich mich fühle?“
„Hosonos Wut war wie ein Feuerwerk explodiert und brannte als Leuchtfackel weiter.“ Aber sie hat immerhin einen Partner und eine schöne Wohnung. Und was geschieht mit Frau Shibata ab der vierzigsten Woche? Die Auflösung des Konflikts soll hier nicht verraten werden.
Werbetext des Verlages: „Frau Shibatas geniale Idee“ ist eine kluge, moderne und feministische Antwort auf tief verankerte patriarchalische Strukturen in der japanischen Gesellschaft – und zugleich ein fulminantes Lesevergnügen.“ Letzteres stimmt, aber es geht nur um Japan. Auch hierzulande ist das Rollenbild Vater als Verdiener, Mutter als häusliche Versorgerin tief verwurzelt. In der akademischen Mittelschicht beginnt da eine Emanzipation, aber unklar ist, wie sie zur allgemeinen werden kann, wenn die meisten Frauen weniger verdienen als Männer, wenn Teilzeitarbeit nicht möglich ist, weil die Familien auf das Einkommen angewiesen sind. Gerade für hochqualifizierte Frauen ist es empörend, dass sie beruflich weniger ernst genommen werden, wenn eine Schwangerschaft ins Haus steht und sie kleine Kinder haben, die ja auch mal krank werden können. Da habe sie von vorherein oft schlechtere Bewerbungschancen als Männer, von denen die Personalabteilungen meinen, dass sie zuverlässig zur Verfügung stehen. Sollten sich die Rollenbilder und sozialen Möglichkeiten ändern, würden sie als mögliche junge Väter womöglich ins Hintertreffen geraten gegenüber älteren Männern oder einen Offenbarungseid zu leisten haben, dass es ihre Frau sein würde, die zu Hause bleibt.
Aber das sind alles – sehr berechtigte – Fragen, die auf einem hohen Niveau gestellt werden. Vergessen wir nicht, wie viele Frauen und Männer in niedrig bezahlten Jobs es gibt. Irgendwie müssen sie klar kommen. Die große Ungerechtigkeit ist so alltäglich, dass sie hingenommen wird.
Solche Gedanken hat der Roman in mir angestoßen. Dabei liest er sich leicht, es ist tatsächlich ein Lesevergnügen.
Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee. Roman. Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz. Atlantik Verlag, 204 S., geb., 21 €.