Der Moment, da alles kippen kann
Von Irmtraud Gutschke
Ein Zeitgefühl in seiner künstlerischen Widerspiegelung: Die Spätmoderne hat sich schon lange von Utopien verabschiedet. Optimismus ist dahin. Die politischen und ökonomischen Bemühungen scheinen vornehmlich darin zu bestehen, sich irgendwie „durchzuwursteln“. „Die offensive Haltung des Fortschritts wird offenbar abgelöst von einer defensiven Orientierung an Prävention, Resilienz und Verlustminimierung“, stellt der Soziologe Andreas Reckwitz fest. Die Gesellschaft befände sich in „Dauerrevision und daher auch in der Dauerkrise“. Dass Menschen unterschwellig darauf reagieren ist nur allzu verständlich.
Nicht erst seit heute haben Katastrophenszenarien in der Kunst Konjunktur. „Sie treten mit dem Anspruch auf, etwas freizulegen, etwas zu entdecken, das unterhalb der Oberfläche dr Gegenwart noch verborgen ist. Darum eignet ihnen stets eine im Wortsinn apokalyptische – also enthüllende Geste“, schreibt Eva Horn in ihrem Buch „Zukunft als Katastrophe“. Eine beeindruckende Vielzahl von Filmen und literarischen Werken lässt sie darin in präzisen Analysen Revue passieren. Viele von ihnen kreisen um einen tipping point. „Aus einer kaum bemerkbaren Tendenz, aus winzigen Schritten entwickelt sich eine einschneidende Änderung der Verhältnisse.“ Das widerspiegelt das verbreitete Gefühl, dass wir uns an einem Punkt befinden, da alles kippen kann, weil „die bloße Fortsetzung des Alltäglichen und Gewöhnlichen sich langsam zu einem katastrophischen Bruch“ aufaddiert.
Natürlich zieht sie auch in Betracht, dass es im Menschen auch ein „Vergnügen an tragischen Gegenständen“ gibt, wie es schon Friedrich Schiller diagnostizierte. Katastrophenfilme versprechen Spannung und Ablenkung vom Horror anderer Art, beginnend mit dem Alltagsstress. Zugleich aber wirken solche Bilder, Narrative, Szenarien und Phantasien auch auf die Realität zurück. Sie verstärken die Ängste, die aus einer „Ungewissheit“ kommen, die dem menschlichen Leben doch generell eigen ist. Gleichzeitig aber – dieser Gedanke der Autorin sein hervorzuheben – öffnet das Erzählen von Szenarien „einen Raum, in dem Experimente und Erfahrungen gemacht werden können, ohne verheerende Folgen in der Wirklichkeit zu heben.“
Etwas wird durchgespielt. Angst wird sublimiert. Das gab es wohl immer schon in der Kunst. Das spezifische heutiger Katastrophenerwartungen betreffe über das „Unerwartbarkeit“ hinaus“ auch „das Diffuse ihrer Szenarien“. „Das gegenwärtige Zeitgefühl spürt eine Metakrise auf sich zukommen, deren schwer überschaubare F sich unauffällig und unerkannt zu einem Desaster verknüpfen“. Diese Szenarien sind einerseits alarmistische Appelle, die andererseits entlastend wirken können. Besonderen Wert legt die Autorin zudem auf ihre „analytische, erhellende Kraft“, die allerdings von der Fähigkeit des jeweiligen Künstlers abhängt. Im besten Falle sind es „Experimentalanordnungen“, die man gleichzeitig aus der Perspektive von Betroffenen und aus der Distanz eines reflektierenden Beobachtungen erlebt.
Erhellende Lektüre, wobei Eva Horn im Unterschied zu ihrem großartigen Buch „Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion“ von 2007 stärker auf der Kunstebene bleibt. Es ist, als ob sie sich nicht in die ideologischen Nesseln setzen wollte. Über Angst als Herrschaftstechnik hätte man in diesem Zusammenhang gern mehr gelesen.
Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. S. Fischer Verlag, 474 S., br., 25 €.