Jenseits romantischer Illusionen
Von Irmtraud Gutschke
„Die letzten Zauberer am Amazonas kämpfen um das magische Erbe ihrer Welt“: Das Marketingkalkül im Buchtitel hat auch mich gelockt. Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, die in er Fremde noch zu haben war, hat tiefe Wurzeln in der westlichen Kultur, prägte die Romantik, den Mystizismus im 19. und 20. Jahrhundert, kam mit der Hippie-Drogen-Protest-Kultur zu besonderen Ehren und verbindet sich heute mit Lifestyle-Wünschen alternativer Heilung. Schamanische Heilung kann man auch in Berlin suchen. Doch um das „Echte“ zu erleben, begibt man sich gewöhnlich auf Reisen. Am besten abseits von Touristenrouten, wo auch die Schamanen zu Attraktionen geworden sind.
Da hat der Autor dieses Buches, Redakteur der Zeit, eine Menge Unannehmlichkeiten viel auf sich genommen, was sein Buch so interessant macht. Wer Authentisches zum Thema sucht, wird hier wohl überrascht und verliert bei der Lektüre so manche Illusion. Denn hier begegnen wir nicht den „edlen Wilden“, auf die Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ anspielte, sondern deren Degradation eben durch das Privateigentum.
Als Mitautor des Buches fungiert Dzuliferi Huhuteni, Sohn und Lehrling eines Schamanen, den Thomas Fischermann auf der Fahrt in sein Heimatdorf begleitete und wohl ständig mit einem Aufnahmegerät an seiner Seite war. Dzuliferis lange Monologe hat er aufgezeichnet und in eine gut lesbare Textform gebracht. Man erfährt, wie Heilung vonstatten geht – manchmal indem man die kranke Person lediglich mit Wasser begießt oder mit Tabakrauch umhüllt. Aber das wichtigste für einen Schamanen aus dem Stamm der Huhuteni scheint die Droge Pariká zu sein, die aufwendig gewonnen, die Voraussetzung ist, um in die „andere Welt“ zu reisen und die Fähigkeiten eines Sehers zu erlangen.
Dzuliferi ist fest in seinen Glaubensgrundsätzen, die er dem Gast aus dem Westen gern offenbart. Denn er ist einer, der sich rühmt und große Pläne hat. Als Schamane möchte er Stammeshäuptling werden. Ja, auch um die eigene gemeinschaftliche Kultur gegen das Vordringen des Fremden zu verteidigen, den Stamm wieder zu konsolidieren. Wobei Hipana, sein Dorf auch etwas Privilegiertes hat, wie Fischermann in einem dem Buch angefügten erklärenden Kapitel ausführt. Dzuliferis Vater und Großvater waren die Machthabenden dort. Menschen aus anderen Orten strömten ihnen zu, um sich heilen zu lassen, und zahlten dafür. Die Zuwendungen von Kirchenleuten und Politikern erhielten sie als Erste.
Dass da Neid entstand, verständlich. Ausführlich erzählt Dzuliferi, wie sein Bruder durch Gift ums Leben kam, wobei er sich zugleich der vielen Giftpflanzen rühmt, die in der Umgebung wachsen. Dass Vergiftungen bei größeren Festivitäten üblich seien, lesen wir und fühlen uns ebenso davon brüskiert wie von der offensichtlichen Geldgier im schamanischen Gewerbe. Aber wie sollte es anders sein, nachdem unter den Indigenen im Amazonasgebiet spätestens mit der Kolonialisierung, wenn nicht sogar früher, das ursprüngliche Gemeinwesen zerbrach.
Die westlichen Bescuher – neben Fischermann der brasilianische Waldführer Davilson Brasileiro, die Botanikerin Dr. Luiza de Paula und der Fotograf Giorgio Palmera, mussten natürlich großzügig zahlen für Reise, Unterkunft, Verpflegung und sonstige Hilfe. Dzuliferi wurde ein Teil des Autorenhonorars versprochen. Davon will er sein überliefertes Wissen weitervermitteln und sich ein Aufnahmegerät kaufen, um Erzählungen, Beschwörungsformeln und Arzneirezepte aufzuzeichnen. Wobei er, wie man bei der Lektüre feststellt, tatsächlich über das Talent eines geborenen Geschichtenerzählers verfügt. Und es ist ein großer Reiz, dass viel von seiner Diktion im Text erhalten blieb.
Thomas Fischermann, Dzuliferi Huhuteni: Der Sohn des Schamanen. Die letzten Zauberer am Amazonas kämpfen um das magische Erbe ihrer Welt. Heyne Verlag, 303 S., geb., 22 €.