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Goethe schwimmt im Mondschein
Rundum erstaunlich: „Das Buch der Nacht“ von Bernd Brunner
Von Irmtraud Gutschke
Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang nimmt uns Bernd Brunner in 35 Kapiteln mit auf eine wundersame Reise durch die Nacht – kreuz und quer durch verschiedene Zeiten, Länder und Kulturen und mit so vielen Einzelheiten, dass man nur staunen kann. „Wenn die Sonne untergeht“ – was für ein grandioses Schauspiel. So wie der Autor es beschreibt, kommen einem beim Lesen vielleicht Sonnenuntergänge an verschiedenen Orten der Welt vor Augen, die man einmal erlebt hat. Die „blaue Stunde“ ist ja im Süden anders als bei uns im Norden. Was ich nicht wusste: dass es vor 4 1/2 Milliarden Jahren auf Erden weder Tag und Nacht gegeben hat. Erst mussten sich Unmengen von Staub legen, damit Sonnenlicht auf die Erde durchdringen konnte, und der Mond, der Erde näher, soll viel größer sichtbar gewesen sein.
„Schon zu Urzeiten legte das Nordlicht seine faszinierenden Schleier über die Arktis … Erst der Mensch kam auf die Idee, die Nacht bewusst durch Feuer zu erhellen.“
„Der Tag hat Augen, die Nacht Ohren“, zitiert Bernd Brunner ein schottisches Sprichwort. Wenn es still ist, nehmen wir Geräusche ja viel deutlicher wahr. Schritte vor dem Haus, ein rätselhaftes Poltern – wer hat sich als Kind nicht davor geängstigt. Meine kleine Schwester glaubte immer, Wölfe kommen zu hören. Aber vor den vielen Tierlauten des afrikanischen Dschungels, wie sie der französische Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline hat in seinem berühmten Roman „Reise ans Ende der Nacht“ beschreibt, würde ich mich wohl auch fürchten.
In vielen Werken der Weltliteratur hat der Autor, passend zu seinen eigenen Ausführungen, Zitate herausgesucht. Nächtliche Lesestunden, nächtliche Reisen, nächtliche Spaziergänge von Leuten, die nicht schlafen können. Die Schriftstellerinnen Emily und Charlotte Brontё sollen abends so lange um einen Esstisch herumgerannt sein, bis sie die nötige Bettschwere hatten. Honoré de Balzac stand ein Uhr morgens auf, um zu schreiben. 50 Tassen Kaffee am Tag soll er getrunken haben. Charles Dickens unternahm lange Nachtspaziergänge durch London, auch um die arme, oft kriminelle Nachtseite der Stadt zu studieren.
„In der Dunkelheit der Nacht so allein, da wird das Tiefste, was man will, recht deutlich!“, sinnierte Bettina von Arnim. Tatsächlich werden in diesem Buch Beispiele für gute Einfälle angeführt, die Menschen im Traum gekommen sind. Ich wache auf, weil mir Gelesenes durch den Kopf geht. Wenn ich mich darüber ärgerte, erfahre ich hier, dass es vielen so geht und dass es in Europa, bevor es künstliches Licht gab, sogar üblich war, nicht in einem Stück durchzuschlafen, sondern die Nachtruhe zu unterbrechen – zur Liebe, zum Trinken, zur Geselligkeit – zumal man ja früh zu Bett gegangen war. Und wie ist es mit den Schlafwandlern? Dass manche in diesem Zustand sogar Auto fahren könnten, ist zu lesen. Erstaunlich.
Nachtaktive Tiere: Fledermäuse, Eulen („Sie verkörpern das, was wir alle an lichtscheuen Gedanken in uns tragen“, schrieb Henry David Thoreau in seinem berühmten Buch „Walden“), nicht zu vergessen die Nachtigall, die in ihrem Gesang verstummt, wenn ein Weibchen auftaucht. Träumen Tiere? Der Mondgarten auf einer künstlichen Insel im indischen Rajasthan, vornehmlich für die Palastdamen gedacht, muss traumhaft gewesen sein. Wie ging es in einer mittelalterlichen Stadt zu, wenn die Stadttore abends geschlossen wurden? Es muss ziemlich gestunken haben. In Goethes Weimar, lese ich, war das Leeren der Nachttöpfe ab 1774 erst nach 23 Uhr erlaubt. Seiten später ist davon die Rede, dass der Dichter gern des Nachts in der Ilm schwimmen ging, wo es wirklich dunkel und einsam ist.
Wie haben die Leute ihre Häuser beleuchtet, bevor es Elektrizität gab? Sie benutzten Fackeln, die rauchten und stanken. Wachskerzen hatten nur die Wohlhabenden. Wie begann der Siegeszug der Straßenbeleuchtung und weshalb zog er, gerade in Paris, solche Zerstörungswut auf sich? Welche Rolle spielten die Kaffeehäuser? Wie ist das städtische Nachtleben entstanden? Wie viele Künstler haben davon geschwärmt! Eine romantische Nachtwanderung wird beschrieben, das Rätsel der Dunkelheit und des Mondes gelüftet. Worin liegt das Geheimnis der ersten Stunde nach Mitternacht? Nächtliche Verbrechen und Geistererscheinungen dürfen natürlich nicht fehlen. Irrlichter, Glühwürmchen, Lichtverschmutzung in den Städten – aber warum gibt es kein extra Kapitel über die Liebe? Weil es so selbstverständlich ist, dass sie zur Nacht gehört (und nicht nur zu ihr)? Auch wie das Fernsehen die Nächte verändert hat, können wir uns nur hinzudenken.
Schaue ich abends aus dem Fenster und sehe in den benachbarten Häusern blaue Lichter flackern, verstehe ich die Leute. Sie sind vom Tage abgespannt und wollen auf andere Gedanken kommen. Aber wie viel bunte Knete stopfen sie sich dafür ins Gehirn! Und manche schlafen dann vor der Flimmerkiste ein. Morgens kommen sie nur mit einem starken Kaffee auf die Beine. Besser wäre es doch, mal im Mondlicht spazieren zu gehen, auch wenn man nicht die Pflicht hat, einen Hund auszuführen. Das Buch macht Lust dazu.
Bernd Brunner: Das Buch der Nacht. Galiani Berlin. 192 S., geb., 28 €.