Frust, Groll, Wirklichkeitsverlust
Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ zum Auftakt einer neuen Buchreihe bei Faber & Faber
Von Irmtraud Gutschke
Wie Titularrat Poprischtschin zur Ansicht kommt, Ferdinand VIII., König von Spanien, zu sein, ist schlichtweg verrückt, und so wird er am Ende auch behandelt. Zusammen mit anderen Geisteskranken wird er eingesperrt, der Kopf wird im geschoren, er wird geschlagen und mit kaltem Wasser übergossen. Der Wunschweg „nach oben“ wird gewaltsam versperrt.
Allmachtsphantasien einer gekränkten Seele. Poprischtschin will seinen Platz nicht kennen: ein kleines Licht im Departementsbüro, der dem Direktor die Federn zuspitzen darf, und dessen schöne Tochter schaut ihn nur spöttisch an. Wie heißt es doch in der „Internationale“: „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger.“ Genau das geschieht doch hier.
Heute wird das Ressentiment gern im Widerspruch zwischen behaupteter rechtlicher Gleichheit der Menschen und der kaum zu überwindenden ökonomischen Ungleichheit verortet. Dieses berühmte Werk Nikolai Gogols führt vor Augen, dass es den Neid schon früher gab, wenn Menschen in vergleichbarer Stellung ein höheres Ansehen haben, wie sich dieser Neid in Groll verwandelt, wenn etwas, von dem man glaubt, es stünde einem zu, sich als unerreichbar herausstellt. Gänzlich unerreichbar ist für Poprischtschin die bezaubernde Tochter des Direktors. Weil er das insgeheim spürt, sucht er nach einem Ausweg. Er „hört“ ihr Hündchen „sprechen“, angeblich „schreibt“ es einem anderen Briefe, die er abfängt und liest. Was für eine köstliche Idee des Autors, wie viel Witz hat dieses Buch.
„Ich bin ein Edelmann! Ich kann mich noch hinauf dienen… Auch wir werden noch einmal Oberst sein und, so Gott will, vielleicht noch mehr.“ Und weiter: „Da komme ich zum Beispiel in Generalsuniform zu meinem Chef: auf der rechten Schulter habe ich eine Epaulette und auf der linken Schulter ebenso eine Epaulette, ein blaues Band über der Achsel – nun, was wird dann meine Schöne sagen? … Kann ich denn nicht jetzt gleich, in diesem Augenblick, zum General-Gouverneur, zum Intendanten oder etwas Ähnlichen ernannt werden?“ Er kann es nicht, und das macht ihn verrückt.
Nikolai Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“, neu übersetzt von Alexander Eliasberg (er wählt für Nikolaj die wissenschaftliche Transkription, ich bleibe bei der üblichen eingedeutschten) und illustriert von Edgar Sánchez, ist der erste Band der „edition de Bagatelle“, einer neuen Buchreihe aus dem Verlag Faber & Faber. Ein zauberhaftes Stück Literatur, das ein Lehrstück für Psychologen sein kann und uns sogar manches sagt, so wir das heute viel höher aufwabernde Ressentiment in unserer Gesellschaft verstehen wollen, auch wenn die Wut nicht gleich zum Wahnsinn wird.
Nikolaj Gogol: Tagebuch eines Wahnsinnigen. Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg. Illustriert von Edgar Sánchez. Faber & Faber, 64 S., br., 20 €.