Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Lesgische Prosa, übersetzt von Steffi Chotiwari-Jünger

Lesgische Prosa, übersetzt von Steffi Chotiwari-Jünger

Im Herzen… muss Güte sein

Von Irmtraud Gutschke

Lesgisch, so erfahre ich, ist eine der sage und schreibe 40 Sprachen, die im Nordkaukasus gesprochen werden. Die Lesgen sind also eine von über 160 Nationalitäten in Russland. Die meisten leben in Dagestan, zusammen mit 30 anderen Völkern. So kommen nicht umhin, sich auch auf Russisch zu verständigen, der staatlich zu Russland gehört. Erst im 19. Jahrhundert entstand eine Schriftsprache, zunächst mit Arabischem, dann Lateinischem und ab 1937 mit kyrillischem Alphabet.

Von der lesgischen Literatur wüssten wir nichts, hätten Steffi Chotiwari-Jünger und Fasir Muallim  nicht diese Erzählungen und Miniaturen aufgespürt und für uns übersetzt. Für die Veröffentlichung wählten sie den Weg über Books on Demand, das heißt kein Verlag nahm das Buch auf seine Kosten ins Programm in der Hoffnung, dass es gut verkäuflich wäre. Da hätten die beiden Herausgeber die Segel streichen können. Doch Steffi Chotiwari-Jünger zahlte nicht nur aus eigener Tasche für den Druck, sondern kümmerte sich auch um den Satz und die Gestaltung. Auf den ersten Blick schon ist ein Schmuckstück entstanden. Das Cover von Marie Papuaschwili bezaubert: ein stolzer Reiter mit Fellmütze auf seinem edlen Pferd. Also stellen wir uns so die Lesgen vor. Da sind uns beim Lesen Überraschungen gewiss.

Gleich in der ersten Erzählung von Abdusalim Ismail (geb. 1947) begegnet uns nämlich ein Mann mit dem Spitznamen „Demokrat“. Denn während des August-Putsches 1991 in Moskau stand er „an der Seite des Saufkopfes Jelzin“ auf den Barrikaden vor dem Weißen Haus, nicht wissend, wie sein Engagement im Ende der Sowjetunion endete. Nun schwört er ab und würde das am liebsten über das Fernsehen tun, aber es endet wohl eher in einem Gelage. Die neue Zeit – die Gestalten dieser Texte reiben sich entweder daran oder ignorieren sie. Besser gesagt, sie widersetzen sich, weil die Tradition dort noch etwas ist, weil Herkunft und Erinnerung dort noch etwas ist, das nicht verraten werden darf. In Sedaghet Kerims (geb. 1953) Erzählung „Der Verstoßene“ findet ein Mann nicht einmal mehr bei seinen Verwandten Unterstützung, nachdem er seine junge Frau in der Stadt unglücklich machte. Und in bei „Tagebuch eines Aufgehängten“ von Fejsudin Nagaj (geb. 1951) wird ein Sarg notgedrungen an einen Baum gehängt, weil das Grab sich weigerte, ihn aufzunehmen. Denn der Tote hatte sich in seinem Leben von der Heimat losgesagt, mehr noch, als Wissenschaftler Theorien entwickelt, dass nicht nur Herkunft und Religion nichtig seine, sondern dass überhaupt über allem der Egoismus steht. Das Leben sei „eine riesige Tafel“, meinte er. Jeder müsse „sich nehmen, was ihm gefällt…Und man muss gute Stoßzähne haben für die Selbstverteidigung.“

Dieser gewalttätigen Vereinzelung zu widersprechen, sind sich gleichsam alle Autoren einig. Einer der schönsten Texte ist für mich „Schnee“ von Arben Kardasch (geb. 1961) mit Urgroßmutter, Großmutter, Großvater und der Mutter in einem Hause lebt. Morgens muss der Schnee vom Dach gekehrt, muss zum Wasserholen eine Quelle gefunden werden, die nicht zugefroren ist. Und doch erscheint der Schnee dem Jungen wie ein Wunder. Erst muss er um die Urgroßmutter, dann um den Großvater trauern, doch seine Worte vergisst er nie: „im Herzen des Menschen muss in jeder beliebigen Situation Güte sein.“ Und  „der Schnee erinnert uns daran, ob wir unser Leben richtig fixieren und scheint uns zu verpflichten, es nur ins Reine zu schreiben“.

Der Jüngste unter den sieben Autorinnen und Autoren ist Wad-Ker, geboren 1977, der eigentlich Wadim Keramow heißt und auf Russisch schreibt. Seine sieben kleinen Texte handeln offensichtlich in der Stadt, wo wunderbares, aber auch Befremdliches geschieht. Da verwandelt eine junge Frau jeden Mann mit dem sie zusammen ist, in einen Wollknäuel, nur indem sie seinen Bauch massiert. Oder ein junger Mann (der Autor?) quält sich mit einem Manuskript und wird dabei von einer Fliege gestört. „Warum schreibst du?“, hört er in Gedanken seine Mutter. „Warum bist du überhaupt hier rausgegangen?“ Da denkt man beim Lesen: In seinem Heimatdorf könnte es ihm besser gehen.

Lesgische Prosa. Erzählungen und Miniaturen. Übersetzungen von Steffi Chotiwari-Jünger und Fasir Muallim. Books on Demand, 143 S., br., 8,20 €.

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