Inspirationen zur Selbsterkenntnis
Von Irmtraud Gutschke
Zunächst: Die sanften Bilder von Cindy Kang auf den 60 Karten sind wunderschön. Liebevoll kommen sie den Betrachtenden entgegen, regen ihre Phantasie an. Aber sie sollen natürlich zusammen mit den Texten auf der Rückseite wirken. Die Britin Linn Martinsen hat sie geschrieben. Lesend hört man gleichsam die sanfte Stimme der Psychotherapeutin. Sie erklärt, vor allem aber stellt sie Fragen.
Wer entscheidet sich für eine Therapie? Jemand wohl, der oder dem die Probleme über den Kopf zu wachsen drohen. Ob dieses „Therapie-Set“ eine ebensolche Hilfe sein kann, ich vermag es nicht zu sagen. Martinsen geht vor, wie sie es mit ihren Patienten auch tut. Detailliert und einfühlsam fragen die Karten nach Einzelheiten der Kindheit, nach Gefühlen wie Wut, Furcht, Trauer, Liebe, nach der Vielfalt der Beziehungen und einschneidenden Erfahrungen, die man womöglich gemacht hat. Im Gegensatz zum therapeutischen Gespräch, in dem man ein Gegenüber hat, das einem immer vertrauter wird, eine Bezugsperson fast, ist man indes mit den Karten allein. Was einerseits angenehm ist: Man braucht sich niemandem anders zu öffnen. Man kann sich Zeit lassen, lange über einzelne Fragen nachdenken. Natürlich wird man dabei auf Gedanken kommen, die überraschen, in bisher kaum bekannte Bereiche der Erfahrung vordringen, auch Karten beiseitelegen, weil man sich gerade mit diesen Themen nicht beschäftigen will. Da würde Linn Martinsen als Therapeutin aufmerken: Hallo, Verdrängung! Allein aber hat jeder die Möglichkeit, sich um Schwieriges herumzumogeln, sich gar Antworten zu geben, die nicht stimmen und zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die, sagen wir mal, im konkreten Fall nicht optimal sind.
Vielleicht ist es für den Umgang mit dem Therapie-Set nicht einmal die beste Voraussetzung, einen Leidensdruck zu haben, der in eine Therapie führen würde. Das wäre für mich vergleichbar mit Selbstmedikation einer ernsten Krankheit. Wozu die Karten indes auf jeden Fall gut sind: Erkenne dich selbst. Einfach so aus Neugier, das ist auch schon mal gut. Es kann aber auch einen Zweck haben. Da denke ich ans autobiographische Schreiben.
Das Bedürfnis, vom eigenen Leben zu erzählen, war noch nie so groß wie heute. Allen, die das versuchen wollen, würde ich dieses Set empfehlen als Leitfaden für die Selbsterkundung, verbunden mit einer Mahnung: Du tust es für dich, um deiner selbst gewiss zu sein, um dir ein Bild zu schaffen, das du deinen Nächsten hinterlassen kannst. Du tust es für dich und nicht für eine Öffentlichkeit von Einzelmenschen, die jeder für sich nach Aufmerksamkeit gieren, so dass jeder reden will, aber zum Zuhören nicht mehr die Muße hat.
Linn Martinsen: Das Therapie-Set. Illustrationen Cindy Kang. 60 Karten zur Selbsterforschung in einer Box. Laurence King Verlag, 14,99 €.