Das Rätsel der Schmetterlinge
Bachtyar Ali: Ein farbenprächtiger Roman über Freiheit, Liebe und Religion
„Ab heute seid ihr Mädchen einer anderen, einer reineren Welt.“ – Was die Lehrerin womöglich als sonnige Verheißung verstand, für Khandan fühlte es sich wie ein Hauch von Kälte an. Ihre Freundin Fantana meinte, „dass jeder Mann, der sich dieser Frau genähert habe, auf der Stelle erfroren, und jeder Vogel, der in ihrer Nähe gelandet, erstarrt sei“. Aber auch diese streng religiöse Lehrerin bekommt im Roman von Bachtyar Ali eine Chance, wenigstens in Gedanken zaghaft freie Schritte zu probieren.
Um diese Freiheit geht es im Buch. Der Autor, 1966 im kurdischen Gebiet von Irak geboren, lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland, hat also schon vollzogen, was viele junge Menschen im Roman sich wünschen: Weggehen in die Weite. Sein Buch mag davon geprägt sein, wobei Khandan, die Ich-Erzählerin am Ende in ihr Elternhaus zurückkehrt und die Erfahrung macht, dass allein schon das Schreiben befreien kann. Damit erfüllt sie ein Versprechen, das sie ihrer Schwester gab. Sie möge nicht vergessen sein, darum hatte Perwana gebeten, als sie heimlich mit ihrem Geliebten Fareydun das Haus verließ. Rachgier erschüttert den Ort. Vom Vater und ihren Brüdern ist verlangt, sie zu töten. Alle Männer greifen zu den Waffen. Aber die treibende Kraft scheinen nicht sie zu sein, sondern die Frauen. Schwarz verhüllte Gestalten, ausgerüstet mit Trommeln, bilden einen Kreis um Khadan, bedrängen sie zu sagen, was sie weiß. Man könnte ja meinen, dass eine patriarchalische Gesellschaft vor allem von Männern aufrechterhalten wird, aber hier sieht es ganz anderes aus. Was treibt diese eifernden Weiber? Neid? Nie würden sie zugeben, dass sie einst selber gern ihrer Liebe gefolgt wären. Wahrscheinlich war es auch nicht so. Ohne Widerspruch haben sie sich den strengen Sitten gebeugt, und nun zwingen sie die Jüngeren auf die Knie. Wegzufliegen – keinesfalls soll es ihnen erlaubt sein. Aber Perwana ist so ein Flugwesen. Ständig von Schmetterlingen umflattert, die vielleicht nur ihre jüngere Schwester Khandan sieht. Die kann, wenn sie sehr zornig ist, sogar Stürme entfachen.
Schmetterlinge und Stürme – seit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch, „Der letzte Granatapfel“, ist Bachtyar Ali für sein bildhaftes, mitunter märchenhaftes Erzählen berühmt. Seitdem sind mehrere Romane, Gedicht- und Essaybände von ihm im Unionsverlag Zürich erschienen, der übrigens auch der Verlag von Tschingis Aitmatow ist. Immer geht es um Kurdistan, dieses von Krieg und Armut geschundene Land. Zudem herrscht dort, wo er herkommt, eine radikale Deutung des Islam. Das Misstrauen gegenüber den Frauen, die als unbeherrschbar gelten, führt zu ihrer Unterjochung oder umgekehrt, die Unterjochung wird damit begründet. Durch Perwanas Flucht ist Khandan angeblich selber unrein geworden. Erst wird sie ins Haus ihrer fanatischen Tante verbannt, dann verschwindet sie für Jahre im Haus der Reumütigen Schwestern, wo alle Mädchen um die Befreiung von den Sünden ihrer Mütter oder Schwestern zu beten haben. Gott ja, es ist wie ein Kloster, wo die Nonnen einem Kult der Reinheit unterworfen und sogar alle Spiegel entfernt worden sind. Die Vorsteherin ist sogar eine kluge Frau.
„Perwanas Abend“ – Khandans Erzählen strebt darauf zu. Lesend wird man irgendwann erfahren, was damit gemeint ist. Konnte es denn gelingen, den Liebenden eine Zuflucht zu geben, wo sie sicher wären? In diesem Roman wird es möglich. Am Grunde einer tiefen Schlucht scheint sich ihnen und anderen Paaren ein Paradies zu öffnen. Aber kann solch ein Liebesparadies ewig bestehen? So hat Bachtyar Ali auch einen Roman über die Liebe geschrieben, die der Traurigkeit verwandt ist, die müde werden kann, die ebenso Freiheit braucht wie jedes andere menschliche Beginnen. Und es ist auch ein Roman über den Islam. Mochte es am Anfang scheinen, als ob es nur eine Abrechnung sei mit Frauenfeindlichkeit im Dienste einer disziplinierenden Ordnung, so scheint am Schluss das Bild einer Religion auf, die Gottes Liebe zur Schöpfung in all ihrer Vielfalt zum menschlichen Gebot macht. „Würde er uns vergeben, wenn wir ihn als einen engstirnigen Herrscher sähen, der ein Buch vor sich hat, das er konsultiert, um ein Urteil über uns zu fällen?“ Mit einem langen Brief voller Fragen hat Khandan ihre Lehrerin immerhin zum Nachdenken gebracht. Die antwortet auf die religiösen Erwägungen mit einem weltlichen Argument. „Ihr seid hier, damit die Ordnung erhalten bleibt. Unsere Aufgabe ist es, Menschen mithilfe der Scharia zu beherrschen.“
Irmtraud Gutschke
Bachtyar Ali: Perwanas Abschied. Aus dem Kurdischen (Sorani) v. Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag, 279 S., geb., 22 €.