Podcast zum Buch: dasnd.de/buecherberge
Amphibienmenschen
Sasha Marianna Salzmann über den Zerfall eines Riesenreiches und das Leben zwischen fließenden Identitäten
Von Irmtraud Gutschke
Die ganze Zeit habe ich atemlos gelesen, und auf Seite 374 durchdringt mich ein Jubel. Ich auch, rufe ich Nina im Buch zu, auch mir hat sich der sowjetische Film „Der Amphibienmensch“ eingebrannt. Der schöne Mann namens Ichthyander, dem sein Wissenschaftler-Vater zusätzlich Kiemen implantierte, weil er einen Lungenschaden hatte, konnte auf dem Land und im Wasser leben, aber jeweils nur bestimmte Zeit. Ein brutaler Geschäftsmann lässt ihn fangen, damit er als Perlentaucher für ihn arbeitet. . Ich sah ihn durch ein Gitter in einem engen Wasserfass und wusste: Seine Lungen würden verkümmern. Erst jetzt fällt mir dazu die Frau ein, die nachts in ein Hirschfell schlüpft, das ihr Mann dann heimlich verbrennt. Es ist ein altes Märchenmotiv, dass Menschen mit zwei Identitäten leben, und dass es schlimm ausgeht, wenn man sie in eine einzige zwingt.
Warum wird Sasha Marianna Salzmann im Klappentext Theaterautor*in, Essayist*in und Dramaturg*in genannt, während man das Gendersternchen gewöhnlich nur für den Plural verwendet? Im Internet fand ich ein Video, in dem sie sich als „genderfluid“ bezeichnet. Dabei fühle sie sich mehr als Frau sozialisiert, meint sie. Leben zwischen verschiedenen Identitäten, im Sinne von Zugehörigkeit im weitesten Sinn – vor diesem Hintergrund liest man das Buch.
Die Sprache verzaubert sofort. Wahrnehmung, sensibel wie selten – Fremdheit, Befremden, Distanz und plötzlich das Wagnis von Nähe. Präzision des Benennens, Verstandesarbeit und dann wieder ein intuitives Flügelschlagen, Emporschweben, von dem man beim Lesen Herzklopfen bekommt. „Im Menschen muss alles herrlich sein“ – der Romantitel ist Tschechows Stück „Onkel Wanja“ entnommen, wo Menschen in einer scheint’s ausweglosen Gegenwart gefangen sind und sich wegwünschen in eine bessere Vergangenheit oder glücklichere Zukunft. Doch selbst in ihrer Schwäche lebt Sehnsucht als ein Funke Utopie.
Sasha Marianna Salzmann ist 1985 ist in Wolgograd geboren und in Moskau aufgewachsen. 1995 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland, wie andere jüdische Kontingentflüchtlinge auch, die ihre Vergangenheit aus der Sowjetunion mitgenommen haben. In ihrem Jüdischsein, das manchen früher gar nicht so bewusst war, finden sie nun etwas Verbindendes. Denn in der deutschen Realität ist sich irgendwie jeder selbst der Nächste. Individualisierung – wir spüren die Vorzüge und nehmen die Nachteile in Kauf. Es gibt die Selbstverständlichkeit nicht mehr, dass Familien zusammenhalten. Edi und Nina im Buch sind von ihren Müttern Lena und Tatjana genervt, wollen weg von den „Dauerwehen der Nie-richtig-Angekommenen“. Die Älteren aber sorgen sich.
Sasha Marianna Salzmann fühlt sich ein in ihre Gestalten, ohne auch nur irgendwie zu moralisieren. Vieles halten sie voreinander geheim. Edi hat ihrer Mutter nie erzählt, dass sie lesbisch ist, und die hat niemandem offenbart, wie sie als Kind im Ferienlager „Kleiner Adler“ die seltsame Anziehungskraft der stillen Aljona verspürt und immer wieder an sie gedacht hatte. Später hatte Lena eine wilde Affäre mit einem Tschetschenen, ehe sie Daniel kennenlernte und mit ihm nach Deutschland kam, wo sie als Fachärztin für Neurologie nur noch als Krankenschwester arbeiten darf. Von der Krankheit ihrer Freundin erfährt sie erst jetzt. So offen wie mit Edi hat Tatjana mit ihr wohl nie gesprochen. Vor der Not in Mariupol war sie nach Kriwoi Rog geflohen, hatte einen Schnapsladen geführt, wurde von einem Deutschen verführt, mitgenommen und sitzengelassen. Mit der Herkunft der beiden Frauen in die Ostukraine kommt ein weiteres Konfliktfeld in den Blick.
Von den Siebzigern bis zur Gegenwart in unzähligen kleinen Verästelungen: Selten ist so umfassend und persönlich eindringlich beschrieben worden, wie das Ende der UdSSR den Menschen immer noch in den Knochen steckt. Viele Stimmen hat die Autorin in sich versammelt und mit ihrer eigenen verbunden. Nichts will sie auf einen Nenner bringen. Nina überlegt, ob sich die Sowjetzeit wohl mit der Heisenberg’schen Unschärferelation erklären lässt. „Man sieht nie ein vollständiges Bild“, auch wenn man den Wunsch hat, „dass sich etwas als Ganzes benennen und begreifen lässt“. Ärzte hatten ihr diagnostiziert, dass sie im Hirn „anders verkabelt“ sei, die Mutter hatte sich von dem Attest Unterstützung bei der Jobsuche erhofft. Aber Nina ließ die Termine beim Arbeitsamt verfallen. Da hat sie im Netz den Film „Der Amphibienmensch“ von 1962 gesehen, wollte ihrer Mutter den Link schicken „mit dem Betreff: So fühlt es sich an.“ Aber dann ließ sie es bleiben – und kam nicht auf die Idee, dass sich auch Tatjana, Lena und Edi mitunter als „Amphibienmenschen“ fühlen.
In einem Zwischenreich leben gleichsam alle im Roman. Wobei Nina mit dieser Verallgemeinerung nicht einverstanden wäre, weil es eine Verharmlosung ihrer Lage ist, die wirklich ganz allein ihr gehört. So mag sie der Autorin am nächsten stehen, die schon als Jugendliche den Mut hatte, sich Sasha zu nennen und überhaupt mit Namen zu experimentieren. Denn Menschen reagieren auf Namen, sagte sie 2017 in einem Zeitungsgespräch anlässlich ihres Romandebüts „Außer sich“, mit dem sie es auf Anhieb auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. „Die sehen dich einfach anders, wenn du statt Natascha Marianna heißt.“ Ihren Geburtsnamen verrät sie nicht.
Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein. Roman. Suhrkamp, 381 S., geb., 24 €.