Die Schwungkraft des Unbehagens
Blick von innen und von außen: Steffen Mau analysiert die „ostdeutsche Transformationsgesellschaft“
Von Irmtraud Gutschke
„Der Arm ist gebrochen“, sagte der Arzt, und seltsamerweise war ich erleichtert. Ich solle mich nicht so haben, hatte die hochnäsige Wohnungsnachbarin gemeint, nachdem ich aufs Eis gefallen war. Der Gips war meine Rechtfertigung.
Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, spricht in Bezug auf Ostdeutschland von „gesellschaftlichen Frakturen“. Das Schimpfwort „Jammer-Ossis“ ist abgewehrt. Für die Klagen gibt es Gründe, die hier durchdacht werden. So souverän verbindet sich dabei das emotionale „Wir“ mit rationaler Analyse, dass dieses Buch, auf jeweils eigene Weise, einer Ost- wie auch West-Leserschaft viel zu geben vermag.
Dass der Autor im Klappentext als „Lütten Kleiner Soziologe“ bezeichnet wird, weil er 1968 in diesem Rostocker Neubaugebiet geboren wurde, stößt mir auf. Würde Suhrkamp Ernst Tugendhat einen Brünner oder Jürgen Habermas einen Düsseldorfer Philosophen nennen? Realität des Beitritts in ein schon bestehendes System: Dass wir die Hinzugekommenen sind, nachdem hinter uns ein Staat zusammenbrach, wäscht uns kein Regen ab. Zudem sind die Ostdeutschen demographisch in der Minderheit. „Wir haben damals auch klein angefangen“, sagte die freundliche Tante aus Westberlin, als mein Mann mit der Währungsunion seine Arbeit verlor. Wie hätte sie, umgeben von „Bildzeitung“ & Co., einen gerechten Blick auf Ansprüche aus 40 Jahren DDR haben können? Gut tat es, auf die „armen Verwandten“ herabzublicken. So wie es heute beschwichtigend klingt (wieder Zitat Klappentext), dass „viele der Spannungen,… die sich in Ostdeutschland beobachten lassen,… ihren Ursprung in der DDR-Zeit“ haben.
Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen Vorher und Nachher. Es ist nicht nur ein gelungener Kunstgriff, dass Steffen Mau immer wieder zu Erfahrungen in Lütten Klein zurückkehrt. Soziologische Untersuchungen – er hat unglaublich viele ausgewertet, 34 Seiten umfasst das Register – werden konkret untermauert. Stimmig ist sein Befund einer „um die Arbeit herumstrukturierten, geschlossenen und ethnisch homogenen Gesellschaft, die sich vom westdeutschen Pendant – mittelschichtdominiert, migrantisch geprägt, zunehmend individualisiert – grundlegend unterschied“. Dass in der DDR fast ein Viertel der Bevölkerung in „der Platte“ wohnte, ich wusste es nicht. Die „Lösung der Wohnungsfrage“ war sozialpolitisches Programm. Staatlich subventionierte Mieten (Quadratmeterpreise von 80 Pfennig bis 1,20 Mark), durchdachte Infrastruktur mit „umfassender örtlicher Versorgung, organisierten sozialen Verkehrsformen und gelebter Nachbarschaft“– für Steffen Mau ergibt sich das Bild einer „nach unten hin nivellierten Gesellschaft“, die gerade in der Spätzeit persönlichen Aufstiegswünschen und Distinktionsbedürfnissen nur kontrolliert Raum gab. Was ich nicht wusste: Erich Honecker hat Walter Ulbrichts Politik auch insofern geändert, dass er den Ausbau von Erweiterten Oberschulen und Universitäten drosselte. So sei die Studierendenquote der DDR 1989 „gerade einmal halb so hoch“ gewesen „wie im Westen“. Plausibel: „Gerade weil viele Mitglieder des Führungszirkels selbst aus einfachen Milieus stammten, versuchten sie den Anschein eines gesellschaftlichen Gefälles zu vermeiden.“ Hinzu kommt wahrscheinlich, dass die Positionen „oben“ durch die unter Ulbricht entstandene „Elite“ besetzt waren und „unten“ jede Hand gebraucht wurde. Ein akademisches Prekariat wie die BRD leistete sich die DDR nicht. Dieses Geplante kam irgendwann mit dem sozialistischen Ziel „Jeden nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen“ in Konflikt.
Viele Gründe fügt Steffen Mau zusammen, warum – bei verschiedenen Generationen verschieden – Frust wachsen konnte. Dass der Arbeiter- und Bauernstaat Züge einer „Normierungsgesellschaft“ hatte, lag wohl in seiner Grundstruktur. Den Begriff „totalitäres Regime“ lehnt Mau ab, will stattdessen von einer „Organisationsgesellschaft“ sprechen, in der es vielschichtige „Allianzen zwischen den Herrschenden und dem ‚Staatsvolk‘“ gab.
Wie sich die DDR im Oktober 1990 „selbst ausradiert“ hat, ist freilich nicht nur von innen heraus zu verstehen. Geopolitische Zusammenhänge werden hier, wie so oft, nicht beleuchtet. Gab es vor diesem Hintergrund überhaupt die Möglichkeit, „gemeinsam einen gesellschaftlichen Entwicklungspfad auszuhandeln“? Der Beitrittsgesellschaft wurde „das komplette institutionelle, politische und rechtliche Korsett übergestülpt“. Hinzu kommt die „Liquidation der soziokulturellen Traditionsbestände der ehemaligen DDR sowie drittens die ökonomische Dominanz Westdeutschlands durch die Abwicklung der DDR-Wirtschaft“. Da spart Steffen Mau nicht mit scharfen Worten und aussagekräftigen Zahlen. „Von den im Jahr 1989 Erwerbstätigen arbeiteten vier Jahre später gut zwei Drittel nicht mehr im ursprünglichen Beruf, bei Personen auf höheren Leitungspositionen waren es neunzig Prozent.“ Gerade in Lütten Klein wird ihm anschaulich, wie „viele Menschen innerhalb weniger Monate aus dem gesellschaftlichen Kern in Außenbereiche geschleudert“ wurden. Das westliche Modell, schon längst dabei, sich vom „wohlfahrtsstaatlich gezähmten Markt“ zu verabschieden, lockte mit Konsumversprechen. Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg hatten viele Ostdeutsche gar nicht für möglich gehalten. National vernebelt, machten sie sich Illusionen über kapitalistische Macht.
„2017 erreichten die durchschnittlichen Nettovermögen in Ostdeutschland gerade einmal 34,5 Prozent des Westniveaus“.so Stefan Mau. Laut einer Studie von 2016 waren bundesweit nur 1,7 Prozent aller herausgehobenen Spitzenpositionen mit Ostdeutschen besetzt. „Dass sich die ostdeutsche Mentalität über die Zeit still und vollständig ausschleicht, steht nicht zu erwarten, da die DDR-Erfahrung und die Transformationserlebnisse narrativ weitergegeben werden und die Ungleichheit sich festgesetzt hat.“
„Wie tief der Stachel bis heute sitzt“, westlich sozialisierte Leser brauchen wohl Empathie, um es zu verstehen. Und Politiker würde es womöglich nicht interessieren ohne die Erfolge von Pegida und AfD. Die Einordnung dieser Phänomene und ihrer Fundamente ist die Gretchenfrage einer reflektierten Sicht auf den Osten: Ein Urteil ersetzt hier nicht das Verstehen, das freilich kein Verständnis ist.
Steffen Mau bietet hier sehr differenzierte sozialpsychologische Überlegungen an. Dabei geht es nicht nur um Migranten, die oft als „Repräsentanten einer aus den Fugen geratenen Welt empfunden werden“, um die Furcht vor einer – nach dem Beitrittsprozess – „zweiten Welle der kulturellen Enteignung“, sondern generell um die Weigerung, „von oben herab“ noch einmal „Veränderungs- und Anpassungszumutungen“ hinzunehmen. Mau spricht von einem „emotionalisierten Unbehagen über den Lauf der Dinge“, an das Populisten anknüpfen können. Dieses Unbehagen mag im Osten tiefer wurzeln, was nicht heißt, dass seine Schwungkraft nicht auch den Westen ergreift. Zwar hat es dort nie ein wirkliches Gleichheits-, wohl aber ein Wohlstandsversprechen gegeben, von dem viele enttäuscht worden sind.
„In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften haust massenhafte Wut.“ Der Satz von Wolfgang Engler geht mir nicht aus dem Kopf. In Umfragen vor den Landtagswahlen liegt die AfD in Sachsen gleichauf mit CDU/CSU bei 26 % Prozent. Zweistellige Werte werden aber auch in einigen alten Bundesländern erreicht. Aus Benachteiligung erwächst Radikalisierung als verzerrter Ausdruck eines Klassenkonflikts, dessen Lösung im Sinne linker Politik, wie einmal schon, durch Rechtspopulismus verhindert werden könnte. Letztlich geht es eben nicht um West und Ost, sondern um Oben und Unten.
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp, 286 S., geb., 22 €.