Der Osten im Westen
Natascha Wodin über eine deutsche Wirklichkeit, die viele nicht kennen
Von Irmtraud Gutschke
Selbst wenn es „nur“ drei Millionen wären, die aus der zerfallenden Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind, mitunter aber ist vom Doppelten die Rede. Und da sind die „Bespapirniki“ nicht eingerechnet, diejenigen, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis irgendwie durchschlagen, um mit schlecht bezahlten Tätigkeiten Geld zu verdienen, das sie in die Heimat schicken. Nastja, eigentlich schon um die Fünfzig, aber schmal und schüchtern wie ein junges Mädchen, hat eines Tages bei Natascha Wodin vor der Tür gestanden, nachdem die Schriftstellerein in der „Zweiten Hand“ eine Annonce aufgegeben hatte. Im dritten Sommer nach dem Mauerfall, als sie nach Berlin umgezogen war, hatte sie mit ihrem kaputten Rücken jemanden gesucht, der ihr beim Auspacken der Kisten und beim Putzen hilft. Nastja war überglücklich, dass sie mit Natascha Wodin Russisch reden konnte, und dieser kam gar nicht einmal gleich zu Bewusstsein, dass Nastja nach ihrer Mutter die erste Ukrainerin war, die sie hier traf.
Die Mutter war zur Arbeit nach Deutschland deportiert worden. Sie selbst ist 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter zur Welt gekommen und in verschiedenen Lagern für „Displaced Persons“ in der amerikanischen Besatzungszone aufgewachsen. Als sie elf war, beging ihre Mutter Selbstmord, und der Vater steckte sie zusammen mit ihrer Schwester in ein katholisches Kinderheim. Darüber hat sie mehrfach geschrieben, hier spielt es nur unterschwellig eine Rolle, weil die stille Nastja vieles in ihr aufrührt. Irgendwie unwirklich erschien sie ihr. „Die Grenze zwischen der östlichen und der westlichen Welt war durch mein ganzes Leben verlaufen, sie hatte sich so tief in mein Inneres eingeprägt, dass ihr Verschwinden in der äußeren Welt für mich nicht fassbar wurde.“
Eines Tages hatte sie für Nastja eine in Moskau gekaufte Schelllackplatte mit ukrainischer Volksmusik aufgelegt, und die immer so zurückhaltende Frau war in Tränen ausgebrochen. „So begann meine Geschichte mit ihr. Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter wieder …, die große, dunkle Krankheit, an der sie gelitten hatte.“ So hört sie, erfahren wir nun Nastjas Geschichte, die Natascha Wodin fast schmucklos, lapidar berichtend wiedergibt. In unaufgeregter Genauigkeit lässt sie die Details sprechen. Wie groß die Not in der Ukraine ist, ich ahnte es, habe es mir so aber noch nicht vorgestellt. Nastjas Tochter Vika ist schon weggegangen und meldet sich nur sporadisch bei ihrer Mutter, der sie ihren kleinen Sohn überließ. Der Enkel lebt nun in der neuen Familie des geschiedenen Mannes, die von dem Geld abhängig ist, das sie mit ihrer Schufterei verdient.
Die studierte Bauingenieurin, 30 Jahre in leitender Tätigkeit, war zunächst Dienstmagd einer neureichen Russin, doch bald fanden sich mehrere Putzstellen für sie. Als Schläferin auf dem Sofa ihrer in Berlin lebenden Schwester braucht sie nicht viel für sich, doch lebt sie in permanenter Angst, weil ihr Touristenvisum abgelaufen ist. Sie traut sich kaum noch, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und schreckt nachts aus dem Schlaf, weil sie meint ein Klingeln an der Tür gehört zu haben. Schließlich trifft sie in Berlin einen Mann, der ihr einen Pass als „Jüdin“ zu beschaffen versprach. Sie würde eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und Sozialhilfe beantragen können. Dieses Geld wird sie allerdings jeden Monat an ihn weiterreichen – so lange, bis tatsächlich die Polizei bei ihr vor der Tür stand. Die Geschäfte des Mannes waren aufgeflogen, nun droht ihr die Abschiebung. Widerspruch einlegen, rät eine mit der Autorin befreundete Rechtsanwältin. Heirat wäre ein Ausweg …
Was für eine Geschichte! Wir sehen ein anderes Berlin als das, was wir in unserem Alltag kennen, und blicken auf unsere Wirklichkeit mit fremden Augen. Auf den Berg Grillfleisch zum Beispiel, der in einem Berliner Straßenrestaurant für nur eine Person bestimmt war, in der Ukraine aber für Nastja und ihren Enkel eine ganze Woche gereicht hätte. Die Autorin bewertet nichts, stellt nur fest, überlässt uns die Gedanken, wie es wohl ist, sich als Analphabetin zu fühlten, weil die deutsche Sprache sich einem verschließt. Auch hat Nastja nach einem klaglos bewältigten Arbeitstag von zehn Stunden täglich keine Kraft mehr zum Lernen. Und auch die Schwester lebte „wie auf einem U-Boot“. Wie viele Menschen mag es wohl geben in Deutschland, die schwarz arbeiten und ohne Rechte sind, die in ihrer eigenen Sprachwelt eingeschlossen bleiben und ihre Seele zu Hause gelassen haben? Wie naiv ist es zu verlangen, dass sie sich integrieren oder dort bleiben sollen, von wo die Not sie vertrieben hat. Keine Wahl zu haben, wer kann sich das hier überhaupt vorstellen? Sich minderwertig zu fühlen, nennt Natascha Wodin eine slawische Krankheit. Und sie versucht zu helfen, wie sie nur kann. Längst ist Nastja ihr zur Vertrauten geworden, doch gibt es auch zwischen ihnen einen Abstand, und etwas geschieht, das Nastja zurück zu ihrem Enkel treibt.
Lesend begegne ich einem Berlin, das ich nicht kannte. Sowieso besteht diese Stadt sozusagen aus verschiedenen Orten. „Oft genügte es, eine Straße zu überqueren, um plötzlich in einer anderen Welt zu sein“, bemerkt Nastja. Aber wie viele verschiedene Welten verbergen sich hinter den verschlossenen Türen. Der Osten existiert im Westen und der Süden im Norden, verborgen, unauffällig werden aus Hoffnungen Enttäuschungen, weil dort, wo Reichtum ist, auch Abschottung herrscht.
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt Verlag, 189 S., geb., 22 €.